Dr. med. André T. Nemat ist Gründer und Managing Partner des Institute for Digital Transformation in Healthcare an der Universität Witten/Herdecke, das angetreten ist, um eine humanzentrierte Digitalisierung des Healthcare-Sektors zu gestalten. Mit mehr als 15 Jahren klinischer Erfahrung in der Position als Chefarzt für Thorax-Chirurgie an Krankenhäuser maximaler Versorgungsstufen, sowie dem Aufbau von drei interdisziplinären Lungenzentren, besitzt er profundes Wissen in sämtlichen Gebieten des deutschen Gesundheitssystems. Gepaart mit seinem ingenieurwissenschaftlichen Background treibt ihn zudem die Faszination für modernste Technologie an. Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen technischer Innovationen begleiten ihn seither in verschiedenen internationalen Positionen. Dabei liegt ein Fokus auf den ethischen Implikationen des Fortschritts im digitalen Zeitalter. Zudem ist er vor Kurzem zum Mitglieder des Rates für Digitalethik des Landes Hessen ernannt worden.
Am 14. September 2023 wird Dr. med. André T. Nemat beim Digital Ethics Summit auf dem Event-Schiff MS RheinGalaxie in Düsseldorf auf der Bühne mitdiskutieren. Daher haben wir ihn interviewt:
Der medizinische Fortschritt hat sich in den letzten Jahrzehnten eher linear weiterentwickelt. Stehen wir nun vor einer Zeitenwende der exponentiellen Entwicklung?
Ja und nein: Die Treiber der Digitalisierung sind die exponentielle Steigerung der Rechenleistung, exponentiell steigende Zahl verfügbarer Daten sowie deren Nutzbarmachung durch immer leistungsfähigere Algorithmen. Diese machen auch vor dem Healthcare-Sektor keinen Halt. Allerdings entwickeln sich nicht alle Bereiche im selben Tempo. Digitale Helfer, die Patientinnen und Patienten das Leben leichter machen, haben sich in relativ kurzer Zeit etabliert. Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, wie die Pandemie hier als eine Art Katalysator gedient und etwa den digitalen Impfpass oder telemedizinische Videosprechstunden salonfähig gemacht hat. Unterstützt wird die Akzeptanz solcher Tools auch durch Entwicklungen in anderen Branchen, wo digitale Lösungen traditionell schneller vorangetrieben werden können, da sie weniger stark reguliert sind und eine größere Zahlungsbereitschaft besteht. Man denke beispielsweise an die Apple Watch, die einen Fallsensor integriert hat oder bestimmte Formen von Herzrhythmusstörungen erkennen kann.
Das Potenzial, auf diese Weise Daten in größerem Umfang zu sammeln und zu nutzen, ist definitiv vorhanden. Big Data in Kombination mit Machine-Learning-Algorithmen bietet ganz neue Möglichkeiten in allen Bereichen des Gesundheitssektors, nicht nur um Patienten mehr Komfort zu bieten. Medizinische Forschung, neue Therapieformen sowie digital-unterstützte Rehabilitation werden bereits vorbereitet. In diesen Bereichen stehen wir tatsächlich noch VOR einer Zeitenwende. Allerdings kommen in diesem Zusammenhang völlig neue Fragen auf. Wenn beispielsweise Daten aus Fitnessarmbändern in algorithmische Systeme für die Forschung eingebettet werden – wie können wir die Datenqualität sicherstellen? Wie garantieren wir, dass Algorithmen etwa zur Erkennung von Hautkrebs bei Menschen sämtlicher Hautfarben gleichermaßen funktionieren? Gerade im Gesundheitssektor stellt sich im besonderen Maße die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit neuer Technologien, da solche Fragen noch nicht geklärt sind. Hier müssen wir uns aus meiner Sicht in Zukunft noch viel stärker mit digitaler Ethik auseinandersetzen.
Welche Entwicklung wird unser tägliches Leben schon in den nächsten Jahren beeinflussen?
Ich denke, die konsequente Weiterentwicklung der gerade angesprochenen digitalen Angebote – ergänzt durch Anwendungen wie die elektronische Patientenakte, eAU und eRezept – werden im medizinischen Alltag für Patienten am meisten bemerkbar sein. Aber auch algorithmische Systeme auf Basis von Large Language Models, wie beispielsweise ChatGPT oder Med-PaLM, werden an Relevanz gewinnen. Darauf müssen sich auch Ärztinnen und Ärzte einstellen, denn schon heute ist für viele ja der Besuch beim Arzt bereits das Einholen einer Zweitmeinung – nach „Dr. Google“. Die scheinbar plausibleren Antworten einer generativen KI gehen darüber jedoch weit hinaus. Auch hier kommen dann die ethischen Fragestellungen auf, die wir bereits heute antizipieren sollten.
Welche Regulierung wäre denn wichtig, um die Technologie ethisch korrekt weiterzuentwickeln?
Das ist pauschal schwer zu beantworten. Zunächst müssen wir unterschiedliche Felder voneinander unterscheiden: Zum einen muss der Austausch von Daten auf Basis einheitlicher Standards geregelt werden. Nur wenn wir die dezentral entstehenden Daten sinnvoll miteinander verknüpfen können, lässt sich auch ihr Potenzial entfalten. Aus ethischer Perspektive ist Datensouveränität hier ein wichtiges Stichwort, denn jeder sollte selbst darüber entscheiden können, wie, mit wem und zu welchem Zweck die eigenen Daten geteilt werden. Das muss sowohl rechtlich als auch technologisch gelöst werden und dafür setze ich mich im Rahmen meiner Rolle als Vorstandsmitglied der International Data Space Association ein. Neben der Frage des Datenaustausches gibt es zum anderen noch Regulierungsbedarf bei Produktanforderungen und Qualitätsstandards.
Im Rahmen von algorithmischen Systemen ist der aktuelle, technische Entwurf zum europäischen „AI Act“ ein erster wichtiger Schritt, der auch international Beachtung findet. Hier sind dann allerdings zwei Dinge zu beachten: Wir müssen uns immer fragen, um welche Technologie es genau geht und in welchem Kontext diese eingesetzt wird. Daraus lässt sich ein Risikograd bestimmen, der dann den Anspruch an die Qualität des Systems und die Produktanforderungen vorgibt. Ein einfaches Beispiel: Der Einsatz von KI als Gegner in einem militärischen Computerspiel wird uns wohl kaum beunruhigen. KI-Systeme, die die Steuerung von Drohnen in einem realen Kampfeinsatz übernehmen, dagegen sehr.
Ein Großteil der Menschen hat mittlerweile modernste Technik im Haus oder trägt sie in Form von Wearables am Körper. Die Ausstattung beim Arzt oder im Krankenhaus wirkt aber oft veraltet. Woran hapert es?
Das sind mehrere Faktoren, die hier zusammenkommen. Zunächst einmal unterliegen medizintechnische Geräte und Software starker Reglementierung und aufwendiger Zertifizierungen. Das ist nicht mit Apps von Start-ups aus dem Consumer-Markt zu vergleichen, die recht schnell auf den Markt geworfen werden können – und häufig genauso schnell auch wieder verschwinden. Des Weiteren stellt sich gerade im Gesundheitswesen die leidliche Kostenfrage: Wer bezahlt die top-moderne Ausstattung? Die Vergütung der Behandlung über das Fallpauschalsystem in Krankenhäuser, gepaart mit einem erheblichen Investitionsstau bei deren Ausstattung lassen nicht viel finanziellen Spielraum für kostspielige Anschaffungen. Nicht zuletzt ist die Bereitschaft sowohl von Ärztinnen und Ärzten als auch von Pflegenden erforderlich, um neue Technologien einzuführen. Der klinische Alltag ist stressig genug und die Einarbeitung ist zeitaufwändig. Dafür braucht es zunächst ein Mehr an Engagement, das am Versorgungsalltag vorbeiläuft. Und wenn es schnell gehen muss, setzt man auf bisher Bewährtes – auch wenn dies nicht immer die optimale Lösung ist.
Wie passiert, wenn Menschen immer länger leben, Pandemien beherrschbar werden oder Krankheiten wie Krebs bald ihren Schrecken verlieren?
Ich denke, dass sich unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit sukzessive verändern wird. In dieser Entwicklung erwarte ich für uns alle den größten Einfluss durch die Erstellung eines digitalen Zwillings. Das digitale Abbild des Menschen als Summe seiner Daten wird uns die Möglichkeit bieten, Erkrankungsrisiken frühzeitig zu erkennen, Präventions- und Behandlungsoptionen zu simulieren und die individuell beste Alternative zu finden. Damit erreichen wir eine wirklich personalisierte und präzise Medizin. Ein echter Paradigmenwechsel also. Doch welche Funktion haben dann noch „Kranken“-häuser?
Müssen wir die Ausbildung von Ärztinnen und Ärzten nicht vollständig reformieren und um digitale Kompetenzen, vor allem auch in digitaler Ethik erweitern? Davon abgesehen stehen und fallen die positiven Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels natürlich damit, ob wir es schaffen, entsprechend notwendige Technologien allen Menschen weltweit verfügbar zu machen. Denn hier spielen die Fragen nach Teilhabe und gerechter Verteilung eine große Rolle.
Zusammenfassend ist eine exakte Prognose schwierig, aber ich blicke optimistisch in die Zukunft und auf die enormen Aufgaben, die vor uns liegen, damit eines Tages die positiven Auswirkungen der digitalisierten Medizin uns allen zuteilwerden.
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